Wenn derzeit von der gesellschaftlichen Mitte die Rede ist,
die sich auf den „Hygienedemos“ von Rechtextremen vereinnahmen lasse, stutze
ich. Wenn das die Mitte ist, die sich bereitwillig aberwitzigen, völlig kruden,
wissenschaftsfeindlichen, antisemitischen Thesen hingibt, dann haben wir ein
Problem mit der Mitte. Ich sehe mir die Videos im Netz an, die Gesichter derer, die
interviewt werden und die sich über die Einschränkung ihrer Grundrechte, ihrer
(Impf- und Einkaufs-)Freiheit durch den bösen Staat empören: Und ich kann nicht umhin, ich sehe in diesen Gesichter die
beleidigten Gesichter ihrer (in der einen oder anderen Form) Nazi-Eltern-, Groß- oder
inzwischen Urgroßeltern, die sich nach 1945 betrogen fühlten, weil sei den
Krieg entgegen aller Versprechungen nun doch verloren hatten, die sich ungerecht behandelt fühlten, weil sie doch auch gelitten hatten und nur
eines wollten: die größten Opfer sein, nur um sich nicht damit
auseinandersetzen zu müssen, dass sie Täter gewesen waren. Die auch lieber
nirgendwo hin schauten, nicht in die Länder, die sie bombardiert, ausgeplündert
oder ausgehungert hatten und denen es nach dem Krieg nun auch nicht gerade gut
ging, und vor allem nicht auf den industriellen Massenmord, der heute als Shoah
bezeichnet wird und dessen Rädchen oder Triebwerke sie gewesen waren. Die
Demokratie (in der Brd) empfanden sie als auferzwungen, arrangierten sich irgendwann
mir ihr, weil sie ihnen Wohlstand brachte. Den Sozialismus wohl ebenso, und
wenn der zwar keinen Wohlstand im Sinne der Brd brachte, so doch immer eine
offizielle „Entlastung“, auf der richtigen Seite gestanden zu haben (auch wenn
das für die meisten Familien vermutlich eher nicht der Fall gewesen war).
Heute wie damals: Viel Gefühltes, wenig Fakten, bzw. deren Leugnung.
Und ich weiß ja: Ab dem 9.5.1945 die Bemühungen,
den NS und die Shoah zu relativieren oder zu negieren nie abgerissen –
trotzdem muss ich schlucken, dass in 2020 so laut und hörbar die
Corona-Maßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen werden, die Zeit nach
Corona mit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, Mengele und „Menschenexperimente“
und „Rassegesetze“ in Analogie zur heutigen Situation gesetzt, ja, sogar Armbinden mit gelben Sterne getragen
werden!!!! (Mir lässt schon das Wort „Hygiene“ die Haare zu Berge stehen) Ganz
zu schweigen von dem klassisch verschwörungsideologischen Topos der „jüdischen
Weltverschwörung“, nach dessen Muster sich der Bill-Gates-Hass
manifestiert … Der Boden, auf dem sich die Mitte bewegt, ist offenbar immer
noch so fruchtbar, dass diese „Reflexe“ in dieser Krisensituation sofort
abrufbar sind … also fest verankert sind im kollektiven Gedächtnis und den
einzelnen Körpern. Uff, das soll die Mitte sein? Und, reden wir mal über Analogien – sie wollen
vermeintlich staatskritisch sein, laufen aber jemandem hinterher, der ein „Reich des
Lichts“ gründen will??? Klingelt da nicht was in den Ohren? … wtf.