Mittwoch, 29. Januar 2014

Stuttgarter Notizen VI



Vor zwei Tagen legten die Stuttgarter Nachrichten nach (siehe Stuttgarter Notiven V) und titelten, in einer doppelt so großen und fetten Schriftgröße wie für den Titel zur Ukraine: „Schummler können trotzdem Deutsche werden. In der Affäre um erschlichene Sprachzertifikate bekommen Täter eine zweite Chance.“ Vor zwei Tagen war der 27. Januar. Da passt es doch, dass die Zeitung das Wort „Täter“ in den richtigen Rahmen rückt. Und, ebenfalls auf Seite eins, im Kommentar, falls es jemand noch nicht verstanden haben sollte: „Im Angebot. Der deutsche Pass verliert an Wert.“ Ja, armes Deutschland.

Freitag, 24. Januar 2014

Stuttgarter Notizen V



Die Stuttgarter Nachrichten titeln heute mit: „Zahl der straffälligen Asylbewerber steigt deutlich“ – gratuliere! Sie haben die Bildzeitung von rechts überholt! Neulich ließ sich in eben dieser Zeitung der Leitkommentator über das Unwort des Jahres, „Sozialtourismus“, aus, man dürfe ja gar nichts mehr sagen, man müsse doch offen über Asylmissbrauch sprechen dürfen etc. Wie zu erwarten folgten noch nach Tagen freudige Leserbriefe im Stil von „endlich nimmt mal einer kein Blatt vor den Mund“, einfach widerwärtig. „Endlich einmal sagen, was keiner sich traut“ ist ein beliebtes Argument in diesem Land, das mir erstmals in meiner Schulzeit begegnete, als eine Klassenkameradin meinte, Franz-Joseph-Strauß wäre wenigstens so mutig, auszusprechen, was die meisten sich nicht trauen. Mutig sein, heißt also, rassistisch, antisemitisch, oder wie zurzeit unter dem Deckmantel der Sorge ums Sozialsystem, antiziganistisch zu sein. Die Publizistin Jutta Ditfurth weist in einem Interview darauf hin, dass große Teile der bürgerlichen Mittelschicht dabei seien, sozial zu verrohen und bezieht sich unter anderem auf eine Studie des Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung. Die Stuttgarter Nachrichten liegen also voll im Trend! Sie gießen wissentlich Öl ins Feuer des aktuellen gesellschaftlichen Klimas: Na, das nenne ich verantwortungsvollen Journalismus!

Sonntag, 19. Januar 2014

Stuttgarter Notizen IV: Erwachsene, bastelt!



Der Beitrag der Deutschen Bahn zur Entschleunigung: E. fährt an ihrem Geburtstag von Stuttgart nach Berlin zurück und erhält ein pdf zum Herunterladen und Zusammenbasteln: Einen Papier-ICE mit ihrem Namen  und "Herzlichen Glückwunsch" drauf. Und das Rezept für eine Schwarzwälder Kirschtorte. Ich stelle mir vor, wie alle Geburtstagserwachsenen mit vor Konzentration gespitzter Zunge an ihren Plätzen im Zug ausschneiden, falzen, falten, kleben statt unnütze und störende Handytelefonate zu führen oder Filme zu schauen. Zuhause wird dann Schwarzwälder Kirschtorte hausgebacken. Danke, Deutsche Bahn!

Montag, 13. Januar 2014

Stuttgarter Notizen III

 
Nagold unterm Regenbogen

Just als ich im „Ländle“ ankam, war die homophobe Petition des Herrn Stängle (oder so) in die Öffentlichkeit gelangt. Eigentlich wollte ich mich damit nicht beschäftigen. Ich hätte gerne gesagt: Nehmt ihn nicht so ernst, er kommt aus einer finsteren Gegend, das produziert finstere Gedanken, er hat ein ernsthaftes Problem mit seiner Sexualität, mit seinem Geschlecht, seiner Religion. Vielleicht ist er suizidgefährdet?
Leider ist so ein Herr aber auch ein geistiger Brandstifter, und wenn über 100.000 seine Petition unterschrieben haben, macht das etwas mit dem gesellschaftlichen Klima. Als in Frankreich vor einem Jahr der homophobe Mob auf die Straße ging, nahm homophobe Gewalt nachweislich zu. Eine solche Petition, die man übrigens argumentativ leicht in der Luft zerreißen kann, stärkt jenen den Rücken, die Angst und Hass verbreiten gegen alle, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Und von all den hanebüchenen Argumenten, die man sich im Internet antun kann, habe ich meine „liebsten“ herausgesucht: 1) Ein Problem zu benennen verschärfe demnach das Problem noch. Ah ja. Sexuelle Gewalt zum Beispiel sollte man demnach lieber verschweigen, sonst wird sie nur noch schlimmer … 2) Man solle einzelne Gruppen nicht überbetonen. Fangen wir doch mal mit der heterosexuellen Gruppe an. Die wird ja nun wirklich überbetont, in der Werbung, in Filmen, in (nicht nur) Schulbüchern. Apropos Schulbücher. Die hätte Herr Stängle (oder so) wahrscheinlich gerne statischer. Wie in den 50er Jahren vielleicht: Papa geht arbeiten, Mama hütet die Kinder und schmeißt den Haushalt, stellt abends die Pantoffel für Papa unter den Tisch … oder denkt er an Schulbücher von vor den fünfziger Jahren?
Es gibt eine Gegenpetition, die findet man hier.

Donnerstag, 9. Januar 2014

Stuttgarter Notizen II


Heute im langärmeligen T-Shirt durch den Schlossgarten und den Rosensteinpark spaziert. Vorfrühling im Januar, nach dem vergangenen Winter dann doch unerwartet, c’est la moindre chose qu’on puisse dire. Die körpereigene Drogenproduktion läuft auf Hochtouren.



An der Seeanlage (lese: Seelenlage) des oberen Schlossgartens Möwen, ich schließe die Augen und bin einen Moment am Meer. Ja, ich suche in der Stadt das Land und auf dem Land die Stadt (schwierig), weil ich beides möchte und nicht haben kann (noch eher in der Stadt) (und komm mir keiner mit Kleinstadt, siehe Stuttgarter Notizen I)

Der mittlere Schlossgarten ist „der aus den Nachrichten“. An einem Bauzaun diverse Parolen, phantasievoll mit „Bepperle“ statt Sprühfarbe angebracht. 




Wahrscheinlich gibt es einen Sprüherbestrafungs-paragraphen, wer aber kann jemanden bestrafen, weil er irgendwo ein buntes Papier aufklebt? Das müsste man auch jeden bestrafen, der ein buntes Papierchen auf öffentlichen Boden fallen lässt …. Irgendwann muss ich mich mit Stuttgart 21 auseinandersetzen, mit diesem für außenstehende undurchsichtigen Gemenge aus Empörung und Häme. Sicher ist: Dass Bürger nur dann auf die Straße gehen, wenn ihnen selbst Flugzeuge über den Kopf tieffliegen, ihr Teller in Gefahr ist oder eben Bäume gefällt werden, ist kein schwäbisches Phänomen sondern gilt landesweit. Dass Städtebau ein extrem verfilzter, intransparenter, schon fast mafiöser Politikbereich ist, ebenso.