Ich bin immer wieder fassungslos, dass in der Diskussion um
zukünftige Renten bestimmte Rentenansprüche ganz selbstverständlich an die
Bedingung gekoppelt werden, privat vorgesorgt zu haben! Um vom Staat eine
bestimmte Leistung zu erhalten, wird man gezwungen, die Privatwirtschaft zu
bereichern. Ingo Schulze schreibt in seinem Essay „Unsere schönen neuen
Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie -- für demokratiekonforme Märkte“ (Hanser 2012): „Kann eine private Versicherung, die per se
verpflichtet ist, Gewinne zu machen, überhaupt im Interesse der Versicherten
sein?“
Warum ist (meines Wissens) noch nie darüber diskutiert
worden, einen zusätzlichen, staatlichen Rentenfonds einzurichten? Stattdessen
zahlt der Staat Bestechungsgeld dafür, dass seine Bürger ihr Geld zu privaten
Versicherern mit dem Nachnamen Riester tragen.
Ich weiß, ich sollte meine Fassung behalten oder sie längst
endgültig verloren haben, denn es handelt sich nur um ein Mosaiksteinchen in der
angestrebten Privatisierung so ziemlich aller Lebensbereiche, die da wären:
Krankenversicherung, Rentenversicherung, alle erdenklichen sonstigen
Versicherungen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Medien, Bibliotheken,
Kulturveranstaltungen und -institutionen, Kulturförderung, Forschung, Transportwesen
(Bahn, Bus, Flugzeug), Plätze, Straßen, Strände, Seen, Armeen, Nachtwächter und
andere Sicherheitsleute, Grenzsicherung (auch: der europäische Schutzwall gegen
Flüchtlinge genannt), habe ich was vergessen?
Gemeinwohl geht über Privatwohl? Das Private ist politisch?
Heutzutage wird die Politik privatisiert. Und zwar in großem Maße, denn die
derzeitige Politik in Europa läuft unter dem Deckmantel der „Sachzwänge“ darauf
hinaus, die Staaten so handlungsunfähig zu machen, dass sie klein beigeben und
nur noch, ja was? Organisatoren von freien Wahlen sind? Und damit den Beweis
erbringen, dass es sich noch um Demokratien handelt?
„Ja, ist es denn ein
Wunder?“ sang Nina Hagen, und nein, es ist kein Wunder, denn diejenigen, die in
Sachen Europapolitik die Entscheidungsmacht haben, brauchen ja irrwitziger Weise keinen
Staat (oder denken, sie brauchen ihn nicht): Sie sind zumeist wohlhabend genug, um ihre Kinder in private Schulen, in
privaten Musik-, Schwimm-, sonstigen Sportunterricht zu schicken, genug, um
sich in allen Bereichen privat zu versichern, um sich Bücher zu kaufen und
teure Tickets für Kulturveranstaltungen zu leisten, um Taxi zu fahren und in
Privatjets zu reisen, sich Wassergrundstücke zu kaufen, die sie hinter hohen Zäunen verbergen … habe ich was
vergessen?
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