Meine Freundin G. erzählt: „Die Chilenen damals bei den
Demos in Wien, immer gut drauf, immer mit Musik, die können demonstrieren!“. Können sie immer noch. Die Bilder der „Marcha
pacífica más grande de Chile“ sind einfach unglaublich. Mehr als 1,5 Millionen
Menschen sind allein in Santiago de Chile auf die Straße gegangen. Sie lassen sich nicht mehr von Piñeras
Drei-Groschen-Versprechungen hinters Licht führen. Sie wollen strukturelle
Veränderungen. Sie wollen eine verfassungsgebende Versammlung. Mir kommt es so
vor, als sei ein zutiefst gespaltenes Land – zwischen arm und reich; aber in
großem Maße auch darüber, wie die Zeit der Diktatur unter Pinochet zu bewerten
sei – erstmals wieder zu einem Land von Bürgern geworden, die zusammen etwas
erreichen wollen. Die Proteste sind „una grande fiesta de liberación, de decir no“ (Alejandro Goic), ein großes Fest
der Befreiung, sie sagen nein“,man
kann den Elan, die Entschlossenheit, die Erleichterung auf jedem Foto sehen. Die
Ausgangssperre, deren Uhrzeit jeden Tag neu angesagt wird (in Valparaiso schon
um 18 Uhr) hat von vorneherein niemand beachtet. Im Gegenteil, auch in der
Nacht geht das „Klackklack“ der Revolte, die „cazeroladas“, das Schlagen auf
Töpfe und Dosen, weiter. Und Victor Jara, 1973 im Estadio Chile ermordet,
bekommt eine späte, neue Ehre: Sein Lied „El derecho de vivir en paz“ ist so
etwas wie die Hymne der Bewegung.
Zugleich ist nach wie vor die Armee auf der Straße,
zirkuliert mit Panzern und zu Fuß zielt und schießt auf Leute, offiziell
zugegeben wurden bisher 5 Tote durch die Armee. Es könnten durchaus mehr sein.
Vorwürfe von Vergewaltigungen, Misshandlungen, Folterungen. „Die Diktatur hat
nie aufgehört“, liest man auf Plakaten. Und auch wenn sich Piñera entschuldigt
hat: Kann man entschuldigen, dass jemand sagt: „Wir sind im Krieg gegen einen
mächtigen Gegner“ und seine Bevölkerung meint, und Maßnahmen ergreift, die
direkt aus der Pinochet-Diktatur ins Heute zu reichen scheinen?
Proteste gab es auch schon im Mai gegen die Bildungsreform,
die vorsieht, den Geschichtsunterricht in der Schule zu einer freiwilligen
Angelegenheit zu machen; sie wurden sofort kriminalisiert und heftig bekämpft.
Die Demonstration der Arbeiter im öffentlichen
Gesundheitswesen, die Dienstag stattfand, war schon vor den Protesten
geplant gewesen. Im Juli wurde die Finanzierung der nationalen Filmproduktion
so gut wie gestrichen (letzten Sommer schon für das öffentliche Fernsehen),
auch hiergegen wurde mobilisiert. Den aktuellen Protesten voraus ging der
Aufruf von Schülern und Studierenden, ohne Ticket zu fahren (kleines Detail:
Metrotickets kosten zur Rush-Hour mehr; was einen Politiker dazu veranlasste zu
sagen: sollen sie doch einfach eine halbe Stunde früher zur Arbeit fahren), der
von immer mehr Menschen befolgt wurde. Als der Staat dagegen vorging, kam das
Fass zum Überlaufen. Man kann nie wissen, wann ein Fass überläuft, ja, nicht
einmal, ob es überläuft. In dem Fall hat dieses Überlaufen Geschichte gemacht.
Ich hänge an meinem Bildschirm und habe Tränen in den Augen. Und kann nicht
anders: Ich habe Hoffnung.
(die Informationen zu diesem Artikel stammen aus eigener
Erfahrung, aus Gesprächen mit Freunden, aus dem, was sie im Netz hochgeladen
und geschrieben haben, aus dem Netz insgesamt)
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