Das ungute Gefühl, das mich überkommt, wenn überall diese Riesenwerteworte, wie gerade häufig Demokratie und Freiheit wie Schilde vor sich gehalten werden: Klar, ich bin auch für Demokratie und Freiheit; aber es kommt der Eindruck auf, als stünden diese Begriffe ein für alle Mal fest, als dienten die Schilde als Schutz vor genauerem Nachdenken. Dabei bestehen solche Begriffe aus zig Partikeln, die ständig in Bewegung sind und von denen jedes einzelne immer wieder von nahem betrachtet und gegebenenfalls hinterfragt werden muss. Sie sind also nie fertig, die Diskussion kann nie abgeschlossen sein. Freiheit: Für wen? Wann? Unter welchen Umständen? Was betreffend? Keine Frage, ich will in der Kneipe sitzen können, ohne dabei ermordet zu werden. Trotzdem habe ich parallel dazu im Kopf, dass es schon in dieser Gesellschaft genügend Leute gibt, die sich Kneipe nicht leisten können. Geschweige denn in anderen Regionen der Welt. Für die also diese spezielle Freiheit zwar möglicherweise erstrebenswert, aber insofern weniger erhaltenswert ist, als dass sie sie gar nicht haben. Und wir westlichen Gesellschaften tun nicht immer besonders viel dafür, dass sich das ändert. Daher rührt, glaube ich, mein untuges Gefühl. Dass diese Riesenwerteworte, wenn sie erstarren, leicht selbst zur Ideologie werden.
Freitag, 20. November 2015
Dienstag, 17. November 2015
Gesellschaft ist ein Prozess. Und Frankreich nur ein Beispiel
Es ist kaum Zeit, überhaupt zu begreifen (sofern
begreifbar), was geschehen ist, da stürmt François Hollande schon markig voran. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die Stunde
nützt, sein angeschlagenes Ansehen aufzupolieren, dem Vorwurf der „Laschheit“
mit „männlich-martialischen“ Gesten entgegenzutreten. Krieg. Weiß François
Holland, was Krieg ist? Ich für mich weiß es aus eigener Erfahrung jedenfalls nicht.
Und ja, die Attentate von Paris fühlen sich so an. Aber Krieg findet zwischen
zwei Staaten statt; Krieg zu sagen, heißt also, Daesh als Staat anzuerkennen. Heißt
auch, seinen Anhängern den Gefallen zu tun, sich als Krieger und Kriegshelden fühlen zu können. Dabei sind sie kleine, feige, größenwahnsinnige Jungs mit Egoproblemen,
die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen, und die, indem sie sich in die Luft
jagen, nicht einmal Verantwortung übernehmen wollen für ihr Tun. Kriegsrhetorik
lässt auch keine anderen Maßnahmen zu als Kriegsmaßnahmen. Dazu gehört eine
mögliche Verfassungsänderung, die es erleichtert, Notstandsmaßnahmen zu
ergreifen, ohne dass dazu der Prozess des Ausrufens durchlaufen werden muss (Marine
Le Pen wird sich freuen, sollte sie einmal dieses Amt bekleiden). Des Weiteren ist
eine massive Aufstockung des Personals von Polizei und Zoll vogesehen, eine
Aussetzung von Sparmaßnahmen bei der Armee und einiges mehr. Wenn es um die
Sicherheit gehe, werde die Regierung nicht kleinlich sein, heißt es. Ich sage
nicht, dass das alles falsch wäre, aber zum einen lassen sich Menschen, die
sterben wollen (und nichts anderes sind Selbstmordattentäter), nicht von
Sicherheitsmaßnahmen davon abbringen. Zum anderen ist schon lange bekannt, dass Kalaschnikows in Pariser Kellern
lagern, warum also jetzt erst dagegen vorgehen? Krieg sind die anderen, in einem anderen Land, das hat mit dem eigenen Land nicht zu tun: Nicht
ein einziges Wort über Personal- und Mittelaufstockung in den Schulen, den
sozialen Projekten für Aussteiger oder solchen, die Eltern helfen, wenn ihre
Kinder sich radikalisieren. Keine Aufstockung in den Gesellschaftswissenschaften.
Nicht, dass es nicht schon zahlreiche brillante und vielschichtige Analysen zum
Problem des aktuellen Terrorismus gäbe. Aber die werden offenbar nicht gehört,
und es fehlt an Mitteln, die Theorie in die Praxis umzusetzen, oder überhaupt erst
einmal zu überlegen, wie die Theorie in die Praxis umgesetzt werden könnte. Banlieues,
klar, und schon ist das Problem eingekreist und abgespeist. Dabei ist das
längst nicht so einfach. Frankreich hat die Banlieues, ja, aber es hat zum
Beispiel auch wesentlich mehr „Integration“ als Deutschland. Und die Banlieues sind
längst nicht mehr die einzigen Rekrutierungsorte für Dschihadisten. Ihre
Hintergründe sind keineswegs homogen, manche arbeiteten schon in einen
Beruf, waren „unauffällig“, nicht religiös. Hollande sagte gestern, die
Terroristen würden keine Zivilisation kennen. Unglaublich! Was für ein
Schwachsinn! Die Terroristen, die bisher in Europa „agiert“ haben, sind hier
aufgewachsen, in dieser ach so freien Gesellschaft, die sich die
Zivilisationsvertretung per se auf die Fahnen schreibt. Man kann doch nicht so
tun, als ob, würde man theoretisch Daesh zerschlagen (was sicherlich
wünschenswert ist), man das Problem aus der Welt geschafft hätte! Und wenn ich eben
fassungslos und wütend von kleinen feigen Jungs schrieb, so denke ich trotzdem,
dass man das nicht als „fait accompli“ abtun darf, dass es sich verbietet, so zu handeln, als sei ein Teil dieser
jungen (vorwiegend, aber nicht nur) Männer eh verloren. Als seien diese jungen
Männer die „anderen“, die mit unserem, ach so freien Leben nichts zu tun hätten. Als könnten es nicht auch „unsere“ Kinder oder wir selbst sein. Ich will damit
nichts entschuldigen und auch nicht aus Tätern Opfern machen. Aber so unbequem
es ist, sich das klar zu machen: Der Gesellschaftsentwurf, den ich für gut
halte und in dem ich gerne leben möchte (und der sich keineswegs mit allen im „wir“
versammelten deckt, by the way), macht anderen offenbar Angst. Ist zu
anstrengend. Zu verwirrend. Offenbar unattraktiv. Warum? Muss es nicht darum
gehen, überzeugender zu sein? Weniger heuchlerisch (weil zum Beispiel die, die
sehr gerne so leben würden wie wir in Europa, nicht hereingelassen, als
„Wirtschaftsflüchtlinge“ abgewimmelt werden; ganz zu schweigen vom
wirtschaftlichem Weltgefälle, von dem wir (vor allem in West- und Mittel-) Europa
profitieren und und und ...)? Moderne (und erst Recht Postmoderne) ist kompliziert und
unübersichtlich, macht viel Mühe. Muss man die Angst vor der Moderne, um es mal
etwas pauschal so zu nennen, nicht ernst nehmen, ohne sie deshalb gutzuheißen?
Aus ihr etwas Produktives machen, um das destruktive Potential der Angst zu
entschärfen (das gilt im Übrigen nicht nur für Dschihadisten …)? Ich fürchte,
diejenigen, die jetzt schon extrem ideologisiert sind, wird man in den
seltensten Fällen zurückholen können. Es ist ja das charakteristische von Ideologie,
dass sie auf Dauer nur funktioniert, wenn sie sich um ihren eigenen Bauchnabel dreht, immer
wieder bestätigt wird, wenn der „Realitycheck“ ausbleibt. Selbst beim Blick
„nach außen“ wird noch alles schablonisiert, nur um seine Meinung nicht in
Frage stellen zu müssen. Aber es gibt enttäuschte Rückkehrer. Und all die, für
die Daesh und seine einfachen Formeln anziehend sind. Die man aber vielleicht
noch erreichen könnte. Die man wieder „zu einer Person machen“ könnte (so der senegalesische Philosoph Souleymane
Bachir Diagne auf France Culture).
Und wenn man von zehn Schülern fünf davon abbringt, den Weg zu den Dschihadisten
einzuschlagen, hat es sich gelohnt. Aber das dauert. Und ist, wenn es Erfolg
hat, weder schnell noch sichtbar. Ist komplex und lässt sich nicht für markige
Wahlkampfsprüche verwerten. Vor allem aber bräuchte es dafür noch viel mehr gut
ausgebildete Pädagogen aller Art, viele Mittel, viel Umdenken. Genau: Auch die
Mehrheitsgesellschaft muss ihre einfachen Formeln überdenken. Keine Ahnung,
vielleicht brauchen wir wieder Aufnahmerituale in die Gesellschaft. Ob sie nun
religiös sind oder nicht. Es gibt viele Ideen, viele parallel existierende und parallel zutreffende Erklärungsansätze, viele Herangehensweisen. Gesellschaft
ist ein Prozess, einfach nur „Freiheit“ zu sagen und so tun, als wüssten alle,
was damit gemeint ist und vor allem, als sei diese Gesellschaft schon fertig, nicht mehr kritisierbar, verbesserbar, ist kontraproduktiv. Dabei geht es, pathetisch gesagt,
ums Ganze. Einzig auf schnelle Lösungen, also auf Sicherheit und
Kriegsmaßnahmen zu setzen, heißt, eine Gesellschaft an die Wand zu fahren. Und
zwar bevor man überhaupt ernsthaft etwas anderes versucht hat. Eine Gesellschaft
funktioniert in dem Maße, in dem sie es schafft, innere Probleme
zivilgesellschaftlich zu lösen. Der Zivilgesellschaft die Mittel zu kürzen heißt,
die Sicherheit einer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Insofern sind
französische Regierungen, allen voran Sarkozy, sehr wohl kleinlich gewesen,
wenn es um Sicherheit ging. Unter Sarkozy wurde der Bildungsetat trotz der
offensichtlichen Misere extrem gekürzt, tausende Lehrerstellen gestrichen, die
Lehrerausbildung herabgestuft, nur um einiges zu nennen. Offenbar liegt uns in
den westlichen Gesellschaften selbst nicht besonders viel an unserer „Freiheit“,
wenn wir so leichtfertig bereit sind, sie aufzugeben.
Der vorliegende Text erhebt
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Und Frankreich ist nur ein Beispiel.
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