Freitag, 11. November 2016

Der real existierende Kapitalismus. Versuch, ein paar Gedanken zu ordnen in einer verwirrenden Zeit



Die Eliten sind also Schuld an der Misere. So einfach ist das. Wer aber soll das genau sein? Die politischen Entscheidungsträger? Journalisten? Linke Akademiker (nie die rechten)? Ist eine arbeitslose, taxifahrende, linkspolitisch aktive, bloggende Akademikerin die Elite? Oder eher die Erbmillionärin? Was wäre mit einer Verlegerin, die aus einem „bildungsfernen“ Milieu stammt? Es gibt keine monolithische Gruppe der „Eliten“, dem ein „entrechtetes Volk“ gegenüberstünde. Genau, denn wer „Eliten“ sagt, sagt auch „Volk“. Und bedient sich also munter im rechtspopulistischen Setzbaukasten.
Geht es bei diesem Elitendiskurs vielleicht darum, nicht aussprechen zu müssen, was offensichtlich ist: Dass der Erfolg rechter und rechtspopulistischer Ideen eng mit dem aktuellen, neoliberalen Wirtschaftssystem zu tun hat? Mit Gesellschaften, in denen Marktlogik längst politische Visionen ersetzt hat, und noch jeder gesellschaftliche Bereich, bald schon jede Geste auf Rentabilität (für wenige) reduziert wird? In der jeglicher Versuch, sich dagegen zu wehren als unrealistisch und spinnert abgetan wird?
Ich will nicht sagen, dass es einfache Antworten gibt. „Der“ Neoliberalismus ist genau so wenig allein „Schuld“ wie angeblich monolithische „Eliten“. Aber man kann nicht so tun, als hätte das eine mit dem anderen nichts oder nur zufällig zu tun. Sicher ist jedenfalls, dass Kategorien wie „Ökonomie“ und „Wirtschaftssystem“ auffällig abwesend sind, wenn darum geht, Erklärungen für aktuelle Entwicklungen zu suchen.
Das liegt zum einen natürlich daran, dass das neoliberale Credo im Großen und Ganzen nach wie vor unangetastet bleibt bzw. mit Händen, Füßen und viel Lobbyismus verteidigt wird.
Das liegt aber vielleicht auch daran, dass das Herzstück des linken Diskurses ab den 90er Jahren von den Linken (zu denen ich mich zähle) selbst fallen gelassen wurde: Zum einen war es schwierig geworden, in einer Welt über Ökonomie zu sprechen, in der gerade der Kapitalismus gesiegt hatte (und sich linke Systeme nicht gerade durch menschenrechtliche Höchstleistungen ausgezeichnet hatten); zum einen gab es neue Kämpfe zu kämpfen: um die rechtliche Gleichstellung unterschiedlichster Gruppen, die in linken Diskursen bisher „Nebenwidersprüche“ gewesen waren oder gar nicht erst auftauchten: Frauen, Schwarze, Andersbefähigte, Lesben, Schwule, Transsexuelle usw. usw.  (all diese Begriffe verstehe ich als politische Kategorien, als Kampfbegriffe). Und das war und ist gut so, es gibt immer noch viel zu tun und schon wieder viel zu verteidigen!
Nur dass also die ökonomische Definitionsmacht ab spätestens Ende der 90er solchen Organisationen wie der INSM oblag (hier meine Meinung dazu; das soll schon 11 Jahre her sein?), die mit ihren selbsternannten Experten aufgebrochen waren, die Gesellschaft in ihrem Sinne umzudeuten und das neoliberale Mantra hoch und runter beteten, bis (fast) alle es geschluckt hatten: Privatisierung, Marktliberalisierung (außer, wenn es um Verluste geht), Abbau des Sozialstaates, Alternativlosigkeit etc. etc. etc. Als ob es nicht immer Alternativen gäbe!
Linke Kritik daran hat es immer gegeben, ist aber zunehmend untergegangen in der Vervielfältigung der Stimmen oder angesichts einer gefühlt komplexer gewordenen Post-Kalter-Krieg-Welt, deren neue geographische Linien, technologische Entwicklungen, politische Verwerfungen sich so rasend schnell entwickeln, dass man mit dem Denken kaum hinterher kommt … Oder weil man im Konsumentenalltag selbst davon profitierte? Weil Kapitalismuskritik schnell ins verschwörungstheoretische, antisemitische Fahrwasser gerät? Weil die Kämpfe für Gleichstellung und gegen Diskriminierung so erfolgreich waren und rechtliche und gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge hatte, von denen man nicht zu träumen gewagt hatte? Wahrscheinlich (mindestens) all das zusammen.
Inzwischen kommt es mir so vor, als seien Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze eine Art Zugeständnis gewesen (eines, das nicht viel kostet, sondern im Gegenteil neue Konsumentengruppen bringt), in dessen Windschatten der Abbau des (kostenintensiven) Sozialstaats betrieben und Steuer- und Wirtschaftsgesetze so verändert oder erlassen wurden, dass die Schere zwischen Arm und Reich zumindest in Deutschland inzwischen so weit auseinanderdriftet ist wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine egalitäre Gesellschaft muss aber auch ökonomisch egalitär sein, sonst ist sie nicht egalitär. Auch das Recht auf Wohnen und Arbeit und ärztliche Versorgung muss in der heutigen Welt ein Menschenrecht sein (und ist es nur für wenige in einem kleinen Teil der Welt).
Hier kommt das Gefühl des Abgehängtseins ins Spiel, das also durchaus den Fakten entspricht. Auf dem das (postfaktische) Gefühl aufbaut, die Gesetzgebungen der letzten Jahre hätten allein „Minderheiten“ gegolten. Die demnach als Profiteure des Systems angesehen werden. Dass da ein bisschen etwas nachzuholen ist, dass 20 Jahre dieser Entwicklung hier mehreren 1000 Jahren gegenüberstehen, in denen es anders war – geschenkt (abgesehen davon, dass Rassismus und Hass und Beleidigtsein noch ganz andere historische, psychologische usw. Wurzeln hat).
Trotzdem: Es gibt hier einen Widerspruch, der nicht so ohne weiteres aufzulösen ist.
Entsolidarisierung (Hartz IV-Bashing!), „Bildungsmisere“, Kürzung der Sozialausgaben (und somit der Gelder für soziale Projekte, Stadtteilarbeit, Frauenhäuser, Aussteigerprojekte usw.); überteuerte Mieten, aberwitzige Immobilienpreise, prekäre Arbeitsverhältnisse, Drittmittelforschung; überhaupt die Tatsache, dass gesellschaftswissenschaftliche Fächer (die gesellschaftliche Entwicklungen begleiten, analysieren, Ideen in die Welt setzen sollen)  an den Universitäten finanziell ins Abseits gedrängt werden; eine Steuer- und Wirtschaftspolitik mit inhärenter Selbstentmachtung der Staaten (angefangen bei der konditionslosen Bankenrettung und kulminierend in den berühmtberüchtigten Schiedsgerichten) ---
Es gibt viele Gründe, sich den Diskurs über Ökonomie zurückzuholen. Über Ökonomie und Staat in einer globalisierten Welt, in der Grenzen zwar für Menschen nach wie vor (und wieder vermehrt) gelten, jedoch immer weniger für Güter. Was für Kontrollmechanismen muss es geben, kann es geben, wie können wir egalitäre Gesellschaften schaffen, die nicht national definiert und begrenzt sind? Welche Rolle spielen Zivilgesellschaft und Rechtsstaat? Viele viele Fragen. Und letzten Endes auch die, ob Demokratie mit dem real existierenden Kapitalismus überhaupt vereinbar ist. Ich zweifle mehr denn je daran ...

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